Lange war sich die Netzwirtschaft einig: Daten und Rechenprozesse sind in der Cloud am besten aufgehoben. Doch im Lichte der US-Internetüberwachung erscheint das Konzept plötzlich wie eine ziemlich dumme Idee.
Seit Jahren propagieren nahezu alle Akteure der Netzwirtschaft unisono die Cloud. Ein immer größerer Teil von Rechenprozessen und gespeicherten Daten von Anwendern und Firmen landet in eben dieser – in großen virtualisierten Server-Clustern in einem Rechenzentrum um die Ecke oder am andere Ende der Welt. Zu offensichtlich scheinen die Vorteile: Durch die kollektive Verwendung von Rechenressourcen sowie die Auslagerung von Daten sinken für User, Dienstebetreiber, Firmen sowie Organisationen die Kosten ihrer Nutzung und Prozessierung, gleichzeitig steigt der Komfort. Was in der Cloud liegt, kann von beliebigen Geräten aus abgerufen und auf vielfältige Weise weiterverwendet werden. Hinzu kommen viele individuelle Synergieeffekte und Innovationspotenziale.
Dass das Outsourcing von Rechenprozessen und Datenspeicherung nicht ohne Risiken ist, weiß jeder. Doch die Nutzerzahlen von cloudbasierten Onlineservices (wozu ich auch auf zentralen Servern basierende soziale Netzwerke zähle), die Popularität von Clouddienstleistern à la Amazon Web Services, Microsoft Azure, Google App Engine und Rackspace sowie die Vielzahl der Großkonzerne, die ihre Kommunikations- und Produktivitätsstruktur teilweise oder ganz aus ihrer Kontrolle gegeben haben (Google Apps, Microsoft Office 365), sprechen eine eindeutige Sprache: Für viele überwiegen die Vorzüge der Cloud ihre eventuelle Nachteile.
Doch im Lichte der jetzt enthüllten massiven Internetüberwachung des US-Geheimdienstes wirkt der Ansturm auf die Cloud plötzlich vor allem eines: dumm. Denn was machen wir eigentlich? Wir geben unsere persönlichen Daten – und damit meine ich sämtliche Daten, die bei der Verwendung von Onlineservices generiert und bei der cloudbasierten Verarbeitung von Daten prozessiert werden – freiwillig in die Hände von vorrangig auf der anderen Seite des Atlantiks ansässigen Webfirmen, erwarten dann aber aus bei genauer Reflexion unerfindlichen Gründen, dass diese Informationen dort absolut sicher seien. Wie naiv sind wir eigentlich?
Niemand würde ein persönliches Tagebuch an ein Unternehmen schicken, das verspricht, dieses für einen aufzubewahren und auch garantiert keinen Blick auf die Inhalte zu werfen. Nicht wenn es sich in Deutschland, der Schweiz oder Österreich befindet, und erst recht nicht, wenn es in einem fernen Land ansässig ist. Zu offensichtlich wäre, dass es eine solche Garantie nicht geben kann. Bei klassischen Public-Cloud-Services ist dies nicht anders. Doch dort macht es uns plötzlich nichts mehr aus, das digitale Pendant zum erwähnten Tagebuch – die Summe unserer privaten Konversationen, Dokumente, Medieninhalte, Profilangaben und Nutzungsmuster – in wildfremde Hände zu geben, die obendrei dafür von uns nicht einmal Geld verlangen.
Dies ist keiner dieser regelmäßig erklingenden Appelle für mehr Selbsthosting. Egal wie begrüßenswert es wäre, die komplette Kontrolle über sämtliche persönlichen Daten zu behalten – für die breite Masse der Nutzer ist dies schlicht keine Alternative, da zu kompliziert und unkomfortabel. Doch Nutzer könnten damit beginnen, sich bildlich vor Augen zu führen, was geschieht, wenn sie eine WhatsApp-Nachricht verschicken, ein fremdes Facebook-Profil betrachten, ein Dokument bei Dropbox hochladen oder eine Excel-Tabelle in Google Docs anlegen: Sie senden das digitale Gegenstück zu einem Blatt Papier mit persönlichen Informationen an ein Unternehmen mit der Anweisung, damit einen bestimmten automatisierten Prozess durchzuführen. Das Papier befindet sich in einem nur locker zugeklebten Umschlag mit dem Text “Bitte nicht öffnen”.
Noch nie war das Dilemma des digitalen Zeitalters offensichtlicher als in diesen Tagen: Wir wollen die Vorzüge der globalen Echtzeitkommunikation und -Interaktion nicht mehr missen; sind regelrecht abhängig von ihr, wünschen uns aber gleichzeitig, nicht bis ins letzte Detail durchleuchtet werden zu können. Aus heutiger Sicht erscheint dies wie ein Problem ohne Lösung. Die letzte Hoffnung ist, dass Startups doch einen Weg finden, beide Ansprüche zu vereinen. Viel steht auf dem Spiel. /mw
Foto: stock.xchng/LeoSynapse
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